MAPPIN’SDM ist ein Messinventar zur Feststellung von Art und Ausmaß der Patientenbeteiligung an medizinischen Entscheidungen. Es wird auf Arzt-Patient-Konsultationen bzw. Gespräche zwischen Repräsentanten von Gesundheitsberufen und Patienten oder medizinischen Laien über medizinische Entscheidungen angewandt. Das Inventar besteht aus einem Beobachtungsinstrument und Fragebögen, die von Patienten und Gesundheitsberufen ausgefüllt werden. So kann die Entscheidungskommunikation aus allen relevanten Perspektiven (Arzt, Patient, Beobachter) anhand eines identischen Sets von Kriterien beurteilt werden.
Die Entwicklung fand im Kontext mehrerer vom BMBF und BMG geförderten Drittmittelprojekten statt, allerdings ohne eigene Förderung.
2008 – 2012
Die Entwicklung von MAPPIN’SDM verfolgte drei Ziele:
MAPPIN’SDM bedeutet: “Multifocal approach to the ‘sharing’ in the shared decision making”. Das Inventar enthält sowohl alle relevanten (Mess-)Perspektiven (Arzt, Patient, Beobachter) auf die zu beurteilende Kommunikation als auch die beiden denkbaren (Mess-)Konstrukte (SDM-Verhalten & SDM-Ergebnis) und bringt diese auf alle drei relevanten Messeinheiten (Arzt, Patient, Dyade = Arzt & Patient als Messeinheit) zur Anwendung. Die Entwicklung von MAPPIN’SDM beantwortet den Bedarf an einen Messansatz, der systematisch alle bisherigen Messansätze für SDM abdecken und in vervollständigter Form zueinander in Beziehung setzen kann.
Mit Perspektive ist der Blickwinkel gemeint, aus dem die Beurteilung der Kommunikation vorgenommen wird. Im Unterschied zu allen bisher existierenden Instrumenten, die SDM-Indikatoren entweder beim Arzt oder beim Patienten oder durch den Beobachter erfassen, realisiert MAPPIN’SDM alle drei Perspektiven nebeneinander innerhalb eines Inventars mit identischen Indikatoren.
MAPPIN’SDM berücksichtigt den feinen aber wichtigen Unterschied zwischen zwei Konstrukten, die den existierenden SDM–Maßen zugrunde liegen (Mit Konstrukt ist hier der Messgegenstand gemeint): 1. dem Ausmaß mit dem ein Verhalten vollführt wird, um beide Parteien am Entscheidungsprozess zu beteiligen: SDM-Verhalten. Dieses Konstrukt kann nicht nur durch Patient und Arzt, sondern auch durch den Beobachter beurteilt werden. Die entsprechende abstrakte Frage lautet: “Haben Arzt oder Patient Versuche unternommen, den jeweiligen (SDM-)Aspekt explizit zu machen (und sich in dieser Weise gegenseitig an der Kommunikation beteiligt)?“ 2. das tatsächliche Ausmaß des Gelingens von Beteiligung: das wahrgenommene (Kommunikations-)Ergebnis. Dieser Aspekt kann nur von den unmittelbar in der Kommunikation anwesenden Parteien beurteilt werden. Die entsprechende Frage lautet: „Hast Du dich in der Konsultation an der Kommunikation über den jeweiligen SDM-Aspekt beteiligt gefühlt?“.
D. h. während der Beobachter die Kommunikation nur (mittelbar) bezogen auf das 1. Konstrukt (das Verhalten) beurteilen kann, können die unmittelbar präsenten Parteien (Arzt und Patient) beide Konstrukte beurteilen, also z.B. Verhalten: „die Optionen wurden aufgelistet“ und Ergebnis: „Nun kenne ich meine Optionen“.
Als Messeinheit definieren wir das (soziale) Objekt, auf das sich die Messung bezieht. Die unilaterale Beobachtung von Kommunikation generell und insbesondere eines Aspektes (der Einbeziehung), der eine Gemeinschaftsproduktion darstellt, kann nicht zu validen Beurteilungen führen. Neben der ärztlichen Kommunikation, wie sie in der OPTION-Skala [Elwyn, 2003] erfasst wird, berücksichtigt MAPPIN’SDM daher auch die Beiträge des Patienten und schließlich die Kommunikation von Arzt und Patient als Einheit (Dyade). Es wird angenommen, dass die Qualität der Entscheidung nicht allein davon abhängt, ob bestimmte Aspekte zur Sprache kommen, sondern auch davon, wer diese aufbringt bzw. inwieweit sogar beide Seiten an der Formulierung einzelner Aspekte beteiligt sind. Die Berücksichtigung beider Parteien der Entscheidungs-Dyade stellt die Voraussetzung einer vollständigen Abbildung des Prozesses dar.
Aus diesen Überlegungen resultieren sieben Foki (siehe Tabelle). Als Fokus definieren wir den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ aus Perspektive, Konstrukt und Messeinheit (siehe Tabelle). Die Anzahl ergibt sich daraus, dass beide Konstrukte aus drei unterschiedlichen Perspektiven und bezogen auf drei unterschiedliche Beobachtungseinheiten gemessen werden können. Genau genommen fehlen sogar noch vier Foki, wenn man das System vollständig durchvariieren wollte. Allerdings wurde mit der Messung dieser Foki keine sinnvolle Frage verbunden, sodass sie entfallen. Die Foki 4 und 6, in denen aus der Sicht der unmittelbar präsenten Parteien das Verhalten (Konstrukt 1) der Dyade (Messeinheit 3) eingeschätzt wird, wurden ausschließlich zu Forschungszwecken entwickelt. Die Bildung konvergenter Validitäten zwischen Beobachter und den Parteien auf Basis exakt vergleichbarer Konstrukte sollte hierdurch ermöglicht werden.
Diese verschiedenen Mess-Foki sind durch zwei Messinstrumente abgedeckt, das Beobachtungsinstrument zur Anwendung auf Kommunikationsdokumente (Videos) durch trainierte Rater, das andere zur Bearbeitung durch Arzt und Patient direkt nach einer Konsultation in Gestalt eines Fragebogens mit 30 Fragen. Alle Instrumente finden sich im Anhang; Die Handhabung des Beobachterinstruments ist Gegenstand dieses Dokuments.
Alle sieben Foki verwenden in der revidierten Fassung des Inventars ein identisches Set von 9 SDM-Aspekten(früher 15 [Kasper et al. 2012]), die die international konsentierten Kompetenzen der geteilten Entscheidungsfindung vollständig abdecken. Da die entspreche
nden Verhaltensweisen nicht unbedingt bedeuten, dass es tatsächlich zu einem „sharing“ kommt, sondern nur, dass sich jemand darum bemüht, wird von Indikatoren gesprochen. Alle 12 Indikatoren der OPTION-Skala sind sinngemäß oder in der alten Form enthalten [Elwyn 2003]. MAPPIN’SDM berücksichtigt im Unterschied zu allen bisher existierenden Methoden die Kriterien der Evidenz-basierten Patienteninformation (EBPI [Bunge 2010]. Zu diesem Zweck wurden neue Indikatoren eingeführt. Außerdem wurde die Prüfung der schon bestehenden Indikatoren nach Maßgabe der EBPI präzisiert und im Manual festgehalten (z.B. Indikator 3b). Zusätzlich wurde im Sinne der Gegenseitigkeit der SDM-Kommunikation ein Indikator eingeführt, welcher das arztseitige Verständnis fokussiert.. Für Leser, die die OPTION-Skala schon kennen und die Ergänzung von SDM-Indikatoren nachvollziehen wollen, werden im Folgenden die neuen Indikatoren erklärt (alle Indikatoren sind im Detail in der Kodier-Anleitung erläutert):
Indikator 3a,b,c betrifft die Beurteilung der Besprechung der medizinischen Optionen. Der in der OPTION-Skala schon mit zwei Beobachtungsitems berücksichtigte Indikator (4,5) wurde ergänzt und neu strukturiert. Die Beurteilung, inwieweit die Informationsvermittlung systematisch und dadurch nachvollziehbar gestaltet ist wurde nun auf die gesamte Sequenz der Besprechung der Optionen bezogen und im Indikator 3a definiert. Ähnlich dem Item 5 in OPTION beurteilt 3b die inhaltliche Vollständigkeit der Information über die Optionen und das Abwägen zwischen den Optionen. In der OPTION-Skala noch nicht berücksichtigt ist der in Indikator 3c gefasste Beurteilungsaspekt, der die Informationsqualität in Kategorien der evidenzbasierten Patienteninformation abbildet. Diese ist bei der Gestaltung evidenz-basierter Patienteninformationen ein Standardkriterium [Bunge 2010]. Andere Kriterien betreffen z.B. die Präsentation von Zahlen oder explizite Angaben zur Qualität einer Evidenz. Insofern das SDM-Konzept nicht nur die Form des Informationsprozesses, sondern auch die Qualität der Information betrifft, sollten auch hier alle Kriterien der EBPI gelten.
Indikator 9 berücksichtigt die Frage, ob der Arzt den Patienten verstanden hat, und korrespondiert mit dem schon existierenden Item 8 in der OPTION-Skala (der Frage des Verständnisses auf Patientenseite). Da der Austausch per Definition gegenseitig erfolgt, ist die Rückversicherung, dass die vom Patienten geäußerten Informationen vom Arzt richtig verstanden wurden, ebenso wichtig wie umgekehrt.
Indikatoren 8 & 9: Dem Qualitätsmerkmal, dass Fragen gestellt und beantwortet werden können, ist in der OPTION-Skala ein eigenes Item gewidmet. Die Beurteilungspraxis zeigt aber, dass die Rückversicherung über das gegenseitige Verständnis bzw. die Verbesserung des Verständnisses oft mit Hilfe von Fragen erfolgt. Daher wurde das Fragen-Item in dasjenige zum Verständnis integriert. Entsprechend enthält MAPPIN’SDM auch nur einen Indikator zur Beurteilung des Verständnisses auf ärztlicher Seite.
Einige OPTION-Items wurden zwar sinngemäß übernommen aber leicht umformuliert, um den intendierten Sinn besser zu erfassen. Beispielsweise OPTION-Item 11: „Der Arzt weist darauf hin, dass es notwendig ist, eine Entscheidung jetzt zu treffen (oder aufzuschieben).“ Wurde zu MAPPIN-Indikator 5: „Der Arzt leitet die Auswahl einer Option ein („Aufzuschieben“ kann auch eine Entscheidung sein).“
Einige in den bisherigen OPTION-Items enthaltene Kriterien erfuhren eine konzeptionelle Präzisierung oder Sinnverschiebung, um dem Gedanken von Patientenbeteiligung und der inneren Logik eines SDM-Prozesses zu entsprechen, und mussten daher anders geordnet und zusammengefasst werden. Z.B. erfährt das OPTION-Item 10, die Aushandlung der Rollen im Gespräch erst seinen vollständigen Sinn vor dem Hintergrund der SDM Schlüsselbotschaft. Die Ermutigung des Patienten etwa, eine aktive Rolle in der Entscheidung zu übernehmen bleibt künstlich und unglaubwürdig, wenn nicht damit begründet, dass aus der Medizin heraus nicht der eine richtige Weg für den Patienten festgestellt werden kann (Indikator 2). Daher wurde die Rollenklärung in Indikator 2 integriert.
Veränderungen durch die Revision von MAPPIN’SDM, Version 1.0 zu Version 2.0: Die Vereinfachung der Taxonomie auf 9 Aspekte bedeutet nur, dass die einzelnen Kriterien aus denen sich die ehemals 15 Indikatoren zusammengesetzt hatten, nun anders kombiniert werden. Bei der Revision sind keine inhaltlichen Änderungen am zugrundeliegenden SDM-Konzept vorgenommen worden. Hintergrund der Revision w
aren die Erfahrungen während der Beurteiler-Trainings, die Trennschärfe-Probleme zwischen einigen Indikatoren zeigten. Dadurch mussten mit hohem Zeitaufwand differenzierte Vereinbarungen über Doppelkodierungen getroffen werden, um zufriedenstellende Reliabilitäten zu erreichen. Mit der Vereinfachung des Systems soll auch der Prozess der Messung bzw. das Training von Beurteilern vereinfacht und verbessert werden.
Werden die Beurteilungen durch trainierte Rater anhand des Manuals vorgenommen, misst MAPPIN’SDM mit hoher Zuverlässigkeit. In den drei bisherigen Validierungsstudien wurde gezeigt, dass mit MAPPIN’SDM trotz höherer Komplexität gegenüber der OPTION-Skala [Elwyn 2003] vergleichbare oder bessere Messgenauigkeit erzielt werden kann. Dies kann zum einen an der Vervollständigung der SDM-Aspekte und der Kommunikations-Foki liegen, wodurch es leichter wird, für bestimmte Phänomene die richtige Kategorie zu identifizieren. Zum anderen macht sich hier auch die präzise Definition der Kriterien durch ein interdisziplinäres Entwicklerteam bemerkbar. Das Manual enthält Regeln für Abstufungen im Scoring, mögliche Doppelkodierungen und die zeitliche Aufeinanderfolge einzelner SDM-Aspekte im Entscheidungsprozess.
Erfahrungen in den bisherigen Studien deuten auf Vollständigkeit des nun 11 Aspekte umfassenden 9-Indikatoren-Sets hin. Alle Phänomene konnten im System eindeutig eingeordnet werden.